Lungomare Reggio di Calabria

Lungomare Reggio di Calabria

Durch Zufall bin ich im Internet auf den Artikel eines amerikanischen Journalisten gestoßen, der als Sohn einer italienischen Emigrantenfamilie aus Kalabrien des Öfteren Italien und insbesondere Kalabrien bereist und seine Erlebnisse mit Land und Leuten in kleinen Anekdoten erzählt. Der Artikel mit dem Titel „Alone at Sunset In a Land Without Singles“ beschreibt auf sehr treffende Weise die Erlebnisse eines Alleinreisenden unterwegs in einem Land, in dem es keine Singles zu geben scheint und das “Nie-allein-Sein“ eine Lebensphilosophie ist. (Mit „Singles“ sind hier Personen gemeint, die alleine, also nicht in Begleitung unterwegs sind).

Von MARK ROTELLA

„Letztes Jahr besuchte ich Reggio di Calabria, eine Stadt an der Spitze des italienischen Stiefels. Reggio di Calabria ist bekannt für seine lange Meerespromenade, dem Lungomare, von dem man einen göttlichen Ausblick auf das gegenüberliegende Sizilien und den Etna hat. Die vor allem in den Abendstunden frequentierte Flaniermeile wurde vom Dichter Gabriele d’Annunzio als “Il più bel chilometro d’Italia (“schönster Kilometer Italiens) beschrieben und bietet sich für eine „Passeggiata“ an (Anmerkung: eine Passeggiata ist der traditionelle Spaziergang der Italiener, der wenig mit dem uns bekannten Spaziergang zu tun hat, sondern es handelt sich eher um ein Flanieren und sehen und gesehen werden)

Bei einer leichten Brise in den Abendstunden schloss ich mich also der Passegiata an, bei der Paare Händchen haltend und Gruppen von Jugendlichen und Eltern mit ihren Kindern die Promenade auf und ab gehen, mit Blick auf die Lichter der gegenüberliegenden Stadt Messina.

Wie die meisten Menschen, die Italien besuchen, liebe ich das Essen, den Wein und die gemeinsamen Abendspaziergänge. Ich habe Italien fast ein Dutzend Mal besucht, normalerweise reiste ich mit meinen Eltern oder meiner Frau. Aber dieses Mal ging ich alleine zurück. Ich konnte mich nicht besser vorbereitet fühlen – denn ich sprach die Sprache, konnte den Dialekt verstehen und hatte vor, ein Buch über Kalabrien zu schreiben. Aber ich war überrascht. Ich hätte nie erwartet, mich in einem der geselligsten Länder der Welt so allein zu fühlen. Und ich musste feststellen, dass der Grund dafür genau der ist, dass die Italiener so gesellig sind und der Solo-Reisende ein akutes Gefühl der Einsamkeit verspürt.

In jeder  Stadt, jedem Ort und jedem Dorf in Italien gibt es eine nicht festgelegte, aber allgemein bekannte Tageszeit, zu der die ganze Bevölkerung gut gekleidete einen Spaziergang macht. Es ist nichts abgesprochenes, man geht einfach raus, um einander auf der Straße zu finden.

Auf meiner ersten „ Passeggiata“ allein in Reggio Calabria beobachtete ich die Menschen beim Flanieren. Es fiel mir auf, dass die einzige andere Person, die allein war, ein Mann in den Dreißigern war, der am Promenadengeländer lehnte. Er telefonierte auf seinem Handy und sah sich erwartungsvoll um. Einen Augenblick später trat eine modisch gekleidete Frau mit hochhackigen Schuhen auf ihn zu und ließ ihr Handy in die Handtasche fallen. Sie umarmten und küssten sich, eindeutig erleichtert, einander gefunden zu haben. Ich begann an meine Frau zu denken, die in New York war. Ich wollte mit ihr gemeinsam nach Messina schauen und die kühle Brise fühlen. Italiens Schönheit muss geteilt werden.

Da ich mich gerne mit Leuten unterhalte, nahm ich an, ich hätte kein Problem damit, ein Gespräch zu beginnen. Ich überlegte angestrengt wie ich es anstellen sollte. Vielleicht setzte ich mich auf eine Bank neben ein älteres Ehepaar, das schweigend da saß und beobachtete, wie alle an ihnen vorbei flanierten. Oder, dachte ich, ich könnte jemandem nach dem Weg fragen, vielleicht eine Gruppe von Italienern in meinem Alter, und sie dann in ein Gespräch verwickeln. Vielleicht hätte ich ja sogar den Mut, mich einer Gruppe italienischer Mädchen zu nähern, deren verlegenes Gekicher ich immer sehr liebenswert fand. Aber es ist einschüchternd, sich einer Gruppe zu nähern, ob nun 10 oder 2 Personen, wo „Außenseiter“ nur schwer akzeptiert werden.

Und der Begriff Einsamkeit scheint auch in Süditalien nicht vertraut zu sein. In Italien ist das Wort für „alleine“ und „einsam“ das gleiche, nämlich „solo“. Italiener, so scheint es mir, sind einfach niemals allein – und wenn sie mal alleine sind, dann ist das normalerweise, wenn sie unterwegs sind und auf ihren Handys telefonieren.

Ich entschied, dass die beste Art und Weise die Zeit zu füllen die war, das zu tun, was jeder Italiener tun würde – essen. Ich ging, in der Hoffnung auf ein wenig Komfort in ein bekanntes Restaurant, das auf kalabresische Hausmannskost spezialisiert ist. Ich trinke ein Glas Rotwein als die Vorspeise gebracht wurde. Der Kellner stellte eine peinlich große Portion von dünn geschnittenen Auberginen, Zucchini und eine Auswahl an Käse und Wurst auf den Tisch – eine einzige Bestellung, die offensichtlich dazu bestimmt war geteilt zu werden. Als ich aufblickte bemerkte ich, dass alle im Restaurant verstohlene Blicke auf mich warfen, einige mit Sympathie, einige mit Neugier. Ich fühlte mich wie eine Ziege in einem Streichelzoo, die niemand berühren will. Es scheint, dass jeder in Italien mindestens ein Familienmitglied hat, mit dem er gemeinsam isst.

Als ich so dort saß erinnert ich mich an eine Unterhaltung, der ich einmal in Rom zwischen zwei Italienerinnen zuhörte. Sie sprachen über einen alten Mann, der gerade von einem nahen Tisch aufgestanden war.

«» Er ist verrückt «, sagte die eine Frau.

«» Er ist nur zurückhaltend «, sagte die andere.

“ Nein, er ist ein wenig verrückt. “

«» Wie kommst du darauf? «, fragte die zweite Frau.

„Nun, sieh ihn dir an. Er isst allein.“

Während ich frisches gegrilltes Gemüse aß und hausgemachten Wein trank, stellte ich mir vor, ein Bier in einem irischen Pub auf dem Land zu trinken. Dort ist die Einsamkeit die viele erfahren, eine allgemein akzeptierte Tatsache. Sie können davon ausgehen, dass der Mann, der neben dem leeren Barhocker sitzt, auf den ich mich setzen werde, genauso begeistert sein wird – insbesondere mit genug Bier abgefüllt – sich meine Geschichte anzuhören, wie ich es bin, mir die seine anzuhören. In einer netten Kneipe finden auch Menschen, die alleine sind, Gesellschaft.

Meine Reise auf dieser „Single-Reise“ führte mich auch nach Gimigliano, einem kleinen Bergdorf nicht weit von Kalabriens Provinzhauptstadt Catanzaro entfernt. Ich hatte Verwandte in Gimigliano, wo ich einen Monat lang wohnte, aber jede Woche verbrachte ich eine oder zwei Tage in Catanzaro.

In Catanzaro wurde die Trattoria “Da-Salvatore-Trattoria” mein Zuhause. Jedes Mal, wenn ich dort gegessen habe, wurde ich zu demselben Tisch begleitet – nicht etwa einer bei den Toiletten oder nahe einer Servicetür, wie man das als Einzelperson üblicherweise erwartet, sondern an einen schönen Tisch am Fenster in der Mitte des Raumes. Massimo, der Oberkellner, wusste, dass ich Verwandte in seinem Heimatort Gimigliano hatte und dass ich Kalabrien bereiste. Jedes Mal fragte er mich, wie meine Reise war, und jedes Mal fragte er, wann ich nach Gimigliano zurückkehren würde. Massimo konnte nicht verstehen, warum ich alleine reisen wollte – und warum ich nicht bei meinen Vettern, Tanten und Onkeln im Dorf esse. Das Gespräch endete in der Regel dann wenn mein Essen serviert wurde, und in Stille trank ich meinen Wein und aß meine drei Gänge.

Ein paar Monate später ging ich zurück nach Italien – diesmal mit meiner Frau und deren Eltern. Sie waren gespannt darauf, die Familie im Süden zu besuchen, also flogen wir für ein paar Tage nach Kalabrien. Da unser Flugzeug spät ankam, beschlossen wir, eine Nacht in Catanzaro zu verbringen, bevor wir in die Berge nach Gimigliano fuhren. Wir gingen zu „Da Salvatore“, und als ich zur Tür reinkam sah Massimo mich und fragte: »Signore Rotella, ein Einzeltisch?

Voller Stolz sagte ich, “ Nein, heute Abend bin ich mit meiner Familie hier. “

Der Kellner lächelte, beinahe erleichtert, und rief zu einem der Kellner, «» Ein Tisch für Signore Rotella und seine Familie – schnell“.